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# 04 «Found in (Mis)Translation »

“Jedes Mal suche ich nach einer Art der Übersetzung, die mir etwas Neues bringt“

Ein Gespräch mit Yoko Tawada

Abstract

Dirk Weissmann im Gespräch mit Yoko Tawada

Résumé

Yoko Tawada wurde 1960 in Tokio geboren und lebt seit 1982 in Deutschland. Für ihr umfangreiches Werk in deutscher und japanischer Sprache erhielt sie in beiden Ländern zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Sie ist Trägerin des Kleist-Preises (2016) und des Adelbert-von-Chamisso-Preises (1996) sowie des Akutagawa-Preises (1992) und des Yomiuri-Literaturpreises (2012). Zuletzt erhielt sie 2018 den National Book Award in der Kategorie ‚Übersetzte Literatur‘.

Texte intégral

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Dirk Weissmann: Liebe Frau Tawada, die vorliegende Ausgabe der transdisziplinären und mehrsprachigen Zeitschrift Quadernaist dem Thema ‚Found in (Mis)Translation‘ gewidmet. In der deutschen Fassung des Call for Papers schrieben wir hierzu:

Folgt man seiner herkömmlichen Definition, wie sie z. B. in englischen Wörterbüchern zu finden ist, so bezeichnet der Begriff ‚mistranslation‘ zunächst eine falscheÜbersetzung bzw. Fehlübersetzung. Auf der Grundlage der Idee einer Produktivitätsolcher Fehler hat ein Teil der aktuellen Übersetzungstheorie den Begriff jedoch erweitert und die strikte Grenzziehung zwischen ‚guter‘ und ‚schlechter‘ Übersetzung gelockert. Ansätze dieser Art interessieren sich u. a. für die Subjektivität des Übersetzers und sehen das Übersetzen als interpretativen oder gar kreativen Akt.

Daran würde ich gerne mit meiner ersten Frage an Sie anschließen. Als mehrsprachige Schriftstellerin, die sich permanent zwischen dem Deutschen und dem Japanischen hin- und herbewegt und sich dabei auch immer wieder selbst übersetzt, scheinen Sie gerade dem kreativen Freiraum zwischen den Sprachen eine tragende Rolle beizumessen. Inwiefern ist für Sie die Unterscheidung richtig/falsch bei Ihren schreibend-übersetzenden Bewegungen durch die Sprachen hindurch überhaupt von Belang?

Yoko Tawada: Ich würde vielleicht eher von einer Magie sprechen als von einer Kreativität. Wenn man in einer Sprache etwas schreibt und das dann in eine andere Sprache übersetzt, passiert etwas Wundersames, und das ist eher eine Magie. Es ist nicht so, dass ich mir als Subjekt die Freiheit nehmen würde, sondern das passiert einfach. Zum Beispiel: Jedes Wort hat mehrere Bedeutungen, aber wenn wir ganz normal einen Text in einer Sprache lesen, dann wird eine Bedeutung automatisch aus dem Kontext ausgewählt, und alle anderen Bedeutungen werden unterdrückt. Aber in dem Moment, wenn man versucht, diesen Text in eine andere Sprache zu übersetzen, werden in beiden Sprachen alle Bedeutungen – auch unnötige, also die man im Moment nicht gebrauchen kann – aktiviert. Und so passen zwei Wörter natürlich überhaupt nicht zusammen, deshalb kann man keinen Satz eins zu eins übersetzen. Aber diese Unmöglichkeit – also Unübersetzbarkeit –, das ist deshalb gleichzeitig auch ein Moment, wo alle Bedeutungen lebendig werden. Alle Bedeutungen sage ich. Das sind unendlich viele Bedeutungen. Das heißt wiederum: zu viel, also fast leer, weil das zu voll ist. Und in dem Moment werden die Sprachen von dem Anspruch befreit bedeutsam zu sein. Das klingt alles widersprüchlich, doch das ist, was ich da genieße. Selbst wenn der Autor nur eine Bedeutung braucht oder nur zwei, macht die Sprache selbst etwas anderes als der Mensch will und hört nie auf. Wir gucken nur nicht immer dahin. Aber im Prozess der Übersetzung können wir überhaupt nicht wegschauen, was die Sprache tut. In dem Moment, wo wir Übersetzer sind, schauen wir dieser Tatsache in die Augen, ganz direkt. Daher würde ich dann eher sagen, dass das eine Magie ist.

DW: Obwohl Sie immer wieder dritte Sprachen wie das Englische, das Französische, Afrikaans/Niederländisch (siehe „Bioskoop der Nacht“) und viele andere in Ihre Arbeit miteinbeziehen, spielt das Sprachenpaar Japanisch–Deutsch natürlich eine tragende Rolle in Ihrem Schreiben. Würden Sie sagen, dass das spezifische Spannungsfeld zwischen diesen beiden für sie zentralen Sprachen in besonderer Weise zu (produktiven) Missverständnissen in der Kommunikation führen kann? Oder wäre das Phänomen der (Un)übersetzbarkeit zwischen dem Japanischen und dem Deutschen für Sie letztlich nur ein exemplarischer Fall für eine grundlegende sprachlich-kommunikative Problematik?

YT: Deutsch ist erst einmal für mich nur ein Beispiel einer indoeuropäischen Sprache. Das kann auch eine andere Sprache sein – biographisch gesehen kann das keine andere Sprache sein, aber trotzdem: objektiv gesehen ist es eine unter vielen anderen indoeuropäischen Sprachen, würde ich sagen. Und alles, was ich dann erst einmal im Vergleich zu der japanischen Sprache interessant finde, seien es Personalpronomen, Artikel oder die Unterscheidung zwischen Plural und Singular, das gibt es auch in anderen europäischen Sprachen wie Französisch, Russisch und Englisch. Die japanische Sprache ist keine typische asiatische Sprache. Es gibt keine typisch asiatische Sprache, das ist da etwas anders als in der Sprachgruppe der europäischen Sprachen. Japanisch steht nicht als Stellvertreter für eine größere Gruppe, sondern die Sprache ist eher eine Einzelgängerin. Aber für mich war es sehr wichtig, dass Deutsch und Japanisch weit auseinander sind. Irgendwann fand ich die Nähe – also nicht nur die großen Unterschiede und die Ferne – interessant. Ich habe mir dann deshalb Afrikaans genauer angeschaut, was ja ähnlich ist wie Niederländisch, und Niederländisch hat ja auch eine große Ähnlichkeit mit dem Deutschen. Faszinierend ist da nicht die große Kluft zwischen zwei Sprachen, sondern so eine Art Verschiebung. Also Afrikaans hört sich an, so wie ich im Traum Deutsch höre, und ich kann ja eigentlich Deutsch verstehen, aber es ist leicht verschoben, und ich kann es nicht verstehen, aber irgendetwas kommt trotzdem an. Diese kleinen Differenzen haben mich dann später auch interessiert.

Die Problematik der Kommunikation – was stellt man sich darunter vor? – das habe ich mich auch gefragt. Als ich nach Deutschland kam, konnte ich noch nicht so gut Deutsch. Ich konnte Deutsch lesen, aber was die Leute mir auf Deutsch gesagt haben, habe ich nicht verstanden. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass meine Gefühle nicht verstanden wurden, im Gegenteil. Die Kollegen in der Firma, wo ich gearbeitet habe, und auch die Freunde, die ich gewonnen habe, haben mich sofort durchschaut. Die wussten sofort, ob ich traurig war oder wütend, ob irgendetwas nicht stimmte. Die haben mich viel mehr verstanden, als wenn ich viel geredet hätte. Ich stand so nackt da, nur weil ich nicht viel gesprochen habe. Die Sprache benutzt man oft, um die Gefühle zu verdecken oder zu verheimlichen. Und nicht um die Gefühle auszudrücken, dafür braucht der Mensch keine Sprache, glaube ich. Die Menschen sage etwas, um die Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu lenken, damit der andere nicht merkt, dass man verliebt ist oder dass man etwas schrecklich findet. Um etwas zu vertuschen, ja genau, dazu braucht man ganz viel Sprache oder viele sprachliche Fähigkeiten im Alltag. Oder wie in den Gedichten oder wie in der Literatur, da braucht man die Sprache, um herauszufinden, was die Stille bedeutet, was das Schweigen bedeutet, was der Tod bedeutet und so weiter. Die Problematik der Kommunikation klingt so, als würde man im Alltag Probleme haben, weil man eine Fremdsprache nicht versteht. Das ist selten der Fall. Also zum Leben im Alltag braucht man ganz wenig Sprache, und so wenig Sprache ist wiederum zu wenig für die Literatur.

DW: Sie haben Ihr Schreiben ja einmal als einen Prozess der „ununterbrochenen Übersetzung“ (in einem Interview in Eureka. Poetry and Criticism, 36/14, 2004) definiert, wobei der Akt des Selbstübersetzens stets einen Mehrwert zu erzeugen scheint, wenn ich einmal diesen ökonomischen Begriff verwenden darf. Somit sollte man dort, wo einer Ihrer Texte in zwei auktorialen Sprachfassungen vorliegt, eher von „Partnertexten“ sprechen – wie es Miho Matsunaga („‘Schreiben als Übersetzung‘. Die Dimension der Übersetzung in den Werken von Yoko Tawada“) bereits 2002 vorschlug – als von einer Beziehung zwischen Original und Übersetzung. Welche Bedeutung hätte für Sie in diesem Zusammenhang eine Kategorie wie „originalgetreu“? Ihre ‚Partnertexte‘ sind ja viel zu verschieden, als dass man sie als Blaupausen bezeichnen könnte. Gleichzeitig handelt es sich aber auch nicht um voneinander unabhängige Texte. Könnte man vielleicht das Bild von den zwei Seiten derselben Medaille verwenden?

YT: ‚Partnertexte‘ ist ein guter Begriff, aber das ist von Fall zu Fall ganz verschieden bei mir. Zum Beispiel habe ich Opium für Ovid (2000) auf Deutsch geschrieben und ins Japanische übersetzt. Aber sehr originalgetreu, so originalgetreu, dass die japanische Übersetzung wiederum sehr schwer zu verstehen ist. Das war mein Versuch, Japanisch zu schreiben wie ich es normalerweise nicht schreiben würde oder könnte. Nur weil ich es auf Deutsch so geschrieben habe, wie ich es geschrieben habe, und das dann übersetzt habe, kam ich auf diesen Schreibstil oder diese Schreibweise des Japanischen. Und um so etwas Neues zu entdecken, habe ich extra streng, originalgetreu übersetzt. Manchmal, wenn man nur originalgetreu übersetzt, mache ich gar keine neue Entdeckung. Und dann ist das doch einen Versuch wert, so frei wie möglich zu sein. Das habe ich bei dem Theaterstück Wie der Wind im Ei (1997) gemacht. Das war im Original ein Theaterstück und das habe ich dann ins Japanische übersetzt, aber da kam eine Kurzgeschichte heraus, ein Prosatext. Ich weiß nicht, warum ich das gemacht habe, aber im Prozess der Übersetzung gab es keinen anderen Weg. Ich habe gespürt, dass es gar keinen Sinn hat, einfach den Text zu übersetzen. Und so habe ich das dann gemacht.

Ich habe gar kein Konzept und keinen Plan, aber jedes Mal suche ich nach einer Art der Übersetzung, die mir etwas Neues bringt. Bei Etüden im Schnee (2014) habe ich zum ersten Mal etwas, das ich auf Japanisch geschrieben habe, ins Deutsche übersetzt. Das ist viel schwieriger als umgekehrt. Denn auf Japanisch schreibe ich sehr – wie soll ich das denn sagen? ‚frei‘ ist falsch, aber – gesetzlos und wild, und das passt überhaupt nicht. Das kann ich nicht hinterher in die deutsche Grammatik hineinpressen. Aber das habe ich dann gemacht. Erst war es sehr schwierig, und ich dachte, ich muss das ganz umschreiben. Aber umschreiben kann man es auch nicht, denn wenn man einen Satz ändert, dann muss man alle anderen Sätze auch ändern, und dann wäre es eine andere Geschichte. Aber die gibt es ja nicht, also man kann nicht dieselbe Geschichte zweimal erzählen. Das kann man in einer Sprache nicht und warum soll man das dann in zwei Sprachen können? Und so bin ich dann wieder zurück in die treue Übersetzung, und die war auch unmöglich. Und so kam ich wieder in die Freiheit und so habe ich mich mehrmals hin- und herbewegt. Und ganz am Ende ist so zumindest eine deutsche Fassung von Etüden im Schnee entstanden. Ich weiß nicht, ob das originalgetreu war oder originaluntreu. Auf jeden Fall war es eine Entwicklung vom Text her. Ich finde, die deutsche Fassung ist besser als die japanische. Und die weiteren Übersetzungen sind außer dem Chinesischen alle vom Deutschen aus gemacht worden.

DW:Der Status Ihrer auf Deutsch verfügbaren Texte variiert ja insofern, als einige Texte direkt in deutscher Sprache entstanden sind, während andere aus dem Japanischen übersetzt wurden. So wurde Ihr gerade in Deutschland erschienener Roman Sendbo-o-te (2018), der in den USA den National Book Award erhalten hat, wie die amerikanische Ausgabe (Ü. Margaret Mitsutani) aus dem Japanischen (Ü. Peter Pörtner) übersetzt. Wohingegen Ihr Roman Etüden im Schnee ursprünglich auf Japanisch entstanden ist, aber von Ihnen selbst ins Deutsche übertragen wurde. Dieser Roman rund um den berühmten Eisbären Knut wurde – wie sie eben erwähnt haben – in viele andere Sprachen übersetzt, jedoch ausgehend von der deutschen Fassung. Bedeutet das jetzt, dass die deutsche Selbstübersetzung ein neues Original darstellt? Oder gibt es plötzlich zwei Originale?

YT: Bei Etüden im Schnee würde ich sagen, dass es zwei Originale gibt. Also die deutsche Fassung von Etüden im Schnee würde ich auch als Original bezeichnen. Aber die Arbeit war wie gesagt so mühsam – also aus dem Japanischen ins Deutsche selber zu übersetzen –, dass ich mir gesagt habe: Das mache ich nie wieder! Das war das erste Mal und das letzte Mal! Und so habe ichSendbo-o-te Peter Pörtner gegeben. Der hat ganz früh, als ich noch nicht auf Deutsch geschrieben habe, meine Texte aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt. Nach einer langen Pause als mein Übersetzer hat er jetzt Sendbo-o-teins Deutsche übersetzt. Das ist aber nicht ein Grundprinzip, dem ich jetzt hauptsächlich folgen würde. Das fand ich interessant, weil in diesem Roman etwas nicht enthalten ist, was ich in der deutschen Sprache selber erreichen möchte. Ich kann schwer sagen, was das ist. Aber darum geht es nicht, sondern es geht um die Geschichte und auch um Sprachspiele im Japanischen, was auch mit dem Inhalt des Romans viel zu tun hat. Und das ins Deutsche zu übersetzen, dadurch gewinne ich wiederum nicht so viel. Aber ich wollte sehen, was der Peter Pörtner daraus macht. Und da ist dann sehr stark seine Sprache, seine Gedanken, seine Philosophie drin in dieser Übersetzung. Und die zu lesen ist mir auch eine Freude. Diese Übersetzung ist zwar nicht meine Übersetzung, das ist nicht mein Text, würde ich sagen, aber trotzdem hat er irgendetwas mit mir zu tun. Das ist ja herausgekommen aus einem Text, den ich geschrieben habe. Da ist eine Verbindung, zugleich ist es aber fremd. Und das ist dann interessant, was das dann heißt. Ich habe den Text noch nicht so oft gelesen, aber wenn man diese Texte öfter liest, das macht dann schon etwas mit mir. Das ist bei meinem allerersten Buch Nur da wo du bist da ist nichts (1987) passiert: Da sind Gedichte enthalten, die auch Peter Pörtner aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt hat. Und diese Gedichte habe ich schon tausendmal bei Lesungen laut vorgelesen, so dass sie meine eigenen Texte geworden sind, mehr oder weniger. Das könnte auch mit dem neuen Buch Sendbo-o-te passieren.

DW: Selbstübersetzung und Fremdübersetzung (ein zugegebenermaßen etwas unschöner Begriff) scheinen also in Ihrem Werk Hand in Hand zu gehen. Gleichzeitig besteht prinzipiell natürlich ein großer Unterschied zwischen diesen beiden Formen der Übersetzung, was die Frage der Autorschaft angeht. Denn der sich selbst übersetzende Autor darf völlig frei mit seinem eigenen Text umgehen, was dem Fremdübersetzer natürlich nicht zusteht. Sie selbst haben ja auch Texte anderer Autoren übersetzt. Wie fassen Sie persönlich diesen grundsätzlichen Unterschied zwischen Selbst- und Fremdübersetzung auf? Und inwiefern sind Sie gegebenenfalls versucht, sich eine ‚fremde‘ Übersetzung eines Ihrer Texte aus dem Japanischen wieder ‚anzueignen‘? Zum Beispiel in Form einer Zusammenarbeit mit einem Fremdübersetzer wie Peter Pörtner.

YT: Die Wortspiele – zum Beispiel im Titel von Sendbo-o-te – sind vom Übersetzer. Auch in der englischen Übersetzung hat Margaret Mitsutani sich sehr viel Mühe damit gegeben. Bei der deutschen Übersetzung sind Peter Pörtner und ich einmal durch den Text durchgegangen. Aber es gab nichts, was ich dann direkt kritisiert und er geändert hätte. Bei manchen Stellen habe ich einfach erzählt, was ich empfand, und das hatte vielleicht einen gewissen Einfluss auf die Übersetzung.
Zur Unterscheidung zwischen der Selbst- und der Fremdübersetzung: Ich denke nicht, dass man bei der Selbstübersetzung eine große Freiheit hat. Der Text ist ja schon selbständig. Und wenn man etwas ändert, könnte es sein, dass der Text eventuell kaputt geht. Das kann man ja nicht, man ist nicht ganz frei. Und andersherum: Auch fremde Texte darf man adoptieren und verändert, wenn der Autor das erlaubt. Wenn er noch lebt, dann ist er vielleicht dagegen. Aber sonst ist man frei mit jedem Text. Manchmal kriegt man keine Erlaubnis. Aber das ist keine künstlerische Frage, sondern eher eine juristische Frage. Künstlerisch gesehen ist man immer frei und gleichzeitig nicht frei, denke ich.
Ich habe ja sehr wenige Fremdübersetzung gemacht, zuletzt etwas Größeres: Ich habe Die Verwandlung von Franz Kafka ins Japanische übersetzt. Da habe ich gemerkt, dass die Übersetzung ein Prozess ist. Da nützt die Absicht nicht so viel, die man am Anfang hat oder der Plan. Im Prozess der Übersetzung ist vieles passiert. Vielleicht habe ich mich in ein Ungeziefer verwandelt und wusste nicht, was ich da eigentlich tue. Zumindest habe ich nicht gedacht: Ah, ich bin jetzt frei, ich bin ja Künstlerin. Oder: Ich bin nicht frei, denn das ist der Text von Kafka. Sondern man muss dem Text folgen und etwas machen, das sinnvoll ist. Und das kann sich dadurch ausdrücken, dass man sich vom wörtlichen Sinn entfernt oder dass man ganz nah bleibt. Das kann beides sein. Das hat damit zu tun, was man da machen will, oder in dem Moment zumindest, auch wenn man nicht weiß, was man will.
Die Übersetzungen meiner Texte sind wie Musiker, mit denen ich dann zusammenspiele. Jeder spielt in seiner Art, und ich könnte nicht wie andere Musiker spielen, aber man hört den anderen zu und entwickelt eine gemeinsame Musik. Und das hat einen Einfluss auf das eigene Spielen. Es wäre schön, wenn man ein großes Ensemble – ein Orchester, wenn es geht – entwickeln könnte im Laufe der Zeit, wo der Klang immer hin- und hergeht.

DW:In einer Ihrer Tübinger Poetikvorlesungen mit dem Titel „Schrift einer Schildkröte“ (1998) schreiben Sie: „Die Sprache der Übersetzung tastet die Oberfläche des Textes vorsichtig ab, ohne sich von seinem Kern abhängig zu machen.“ (S. 35-36) Diese graphische und akustische Textoberfläche ist bei Ihnen immer wieder Ausgangspunkt für sprachübergreifende Experimente und Spiele. In diesem Sinne könnte man für Ihr Schreiben durchaus auch den Begriff ‚Oberflächenübersetzungen‘ verwenden, wenn Sie, sei es im Rahmen fiktiver Erzählungen, Klang- und Schriftebene verschiedener Sprachen überkreuzen und vermischen. Können die homophonen Übersetzungen zwischen dem Deutschen und dem Japanischen, wie man Sie überall in Ihren Texten antrifft, darüber hinaus nicht auch als eine Form spielerisch-absichtlicher Fehlübersetzung bezeichnet werden? Würden Sie diesen Begriff ‚Fehlübersetzung‘ für sich akzeptieren?

YT: Ich weiß es nicht, denn ‚Fehlübersetzung‘ kommt ja von ‚Fehler‘, und niemand würde Oberflächenübersetzungen durch einen Fehler machen. Ein Fehler wäre für mich, wenn die Absicht klar ist, und man hat dann gegen diese Absicht etwas getan, was man nicht wollte. Aber ich will ja Oberflächenübersetzung, und deshalb ist es überhaupt keine Fehlübersetzung. Die Frage ist dann natürlich auch: Was ist dann die richtige Übersetzung? Die gibt es ja nicht. Es gibt Übersetzungen, und es gibt vielleicht faszinierende Übersetzungen, kunstvolle Übersetzungen, lebendige Übersetzungen. Aber ‚richtige‘ Übersetzungen gibt es nicht, weil man nichts übersetzen kann. Insofern: Wenn es nichts Richtiges gibt, gibt es auch nichts Falsches, also keine Fehler. Man kann ja keinen Fehler machen. Das hat nichts mit Beliebigkeit zu tun. Wie gesagt: Man möchte ja etwas in der Kunst. Und für das, was man will, muss es sinnvoll sein. Und wenn es sinnvoll ist, ist alles erlaubt.Mir war bis vor Kurzem nicht klar, dass diese Oberflächenübersetzung so wichtig ist für mich, bzw. dass vieles, was ich gemacht habe, mit diesem Begriff zu tun hat. Ich habe mich immer sehr für den Klang der Literatur interessiert oder die Buchstaben. Und das sind mehr oder weniger die Oberflächen des Textes im Vergleich zu dem Inhalt. Und das ist ja, was die Literatur auch unbedingt braucht. Das ist, was die Literatur einfach von der Sprache, die nur Information transportiert, unterscheidet. Ohne diese Oberfläche ist eine poetische Sprache nicht möglich. Daher ist es logisch, dass ich mich für die Oberfläche interessiere. Doch trotzdem kommt immer wieder auch für mich etwas Überraschendes dabei heraus, wenn man auf die Oberfläche achtet. Das schafft dann unerwartete Verbindungen, die ja auch sehr wichtige Dinge treffen. Ich wurde zum Beispiel einige Mal von jemandem angerufen, der sich in der Nummer geirrt hatte. Das war vollkommen absurd, diese Verbindung. Trotzdem hatten diese Gespräche, die ich dann geführt habe, sehr viel mit meinen Kindheitserinnerungen oder Gefühlen oder mit meiner verborgenen Persönlichkeit zu tun. Mehr als ein normales Telefonat mit Freunden, die man kennt, und wo man dann weiß, was man mit denen redet. Vielleicht hat das auch etwas damit zu tun, von einem überraschenden Winkel aus etwas zu betrachten. Sonst wird man ja steif und man sieht nichts anderes mehr, als das, was man ja schon weiß. Das, was man nicht weiß und nicht erwartet zu sehen, darin besteht die Kunst. Und dafür muss man Dinge entweder von einer unerwarteten Perspektive aus betrachten oder aber eine Seite, die man sonst nicht sieht, von einem Ding betrachten. Das sind ja auch Streckübungen im Gehirn und auch im Denken und auch im Fühlen. Diese Funktion hat die Oberflächenübersetzung sicherlich auch. Also mit Fehlern hat das für mich sehr wenig zu tun.

Auteur

Dirk Weissmann ist Professor für Deutsche Literatur und Kultur an der Universität von Toulouse (Toulouse Jean Jaurès). Sein Hauptarbeitsgebiet ist die deutsche Literatur von der Goethezeit bis heute mit einem Schwerpunkt auf den Gebieten Interkulturelle Literaturwissenschaft, literarische Mehrsprachigkeit und Übersetzungswissenschaft.

Germaniste, Dirk Weissmann est Professeur des universités à l’Université Toulouse – Jean Jaurès. Il est membre du Centre de Recherches et d’Études Germaniques (CREG, EA 4151) et chercheur associé à l’ITEM (équipe « Multilinguisme, traduction, création »). Ses travaux portent sur la littérature d’expression allemande, en particulier sur sa dimension multilingue et interculturelle, ainsi que sur la théorie et la pratique de la traduction littéraire.

Yoko Tawada wurde 1960 in Tokio geboren und lebt seit 1982 in Deutschland. Für ihr umfangreiches Werk in deutscher und japanischer Sprache erhielt sie in beiden Ländern zahlreiche Preise und Auszeichnungen. Sie ist Trägerin des Kleist-Preises (2016) und des Adelbert-von-Chamisso-Preises (1996) sowie des Akutagawa-Preises (1992) und des Yomiuri-Literaturpreises (2012). Zuletzt erhielt sie 2018 den National Book Award in der Kategorie ‚Übersetzte Literatur‘.

Pour citer cet article

Dirk Weissmann, Yoko Tawada, “Jedes Mal suche ich nach einer Art der Übersetzung, die mir etwas Neues bringt“, ©2018 Quaderna, mis en ligne le 22 décembre 2018, url permanente : https://quaderna.org/4/dossier-4/jedes-mal-suche-ich-nach-einer-art-der-ubersetzung-die-mir-etwas-neues-bringt/

“Jedes Mal suche ich nach einer Art der Übersetzung, die mir etwas Neues bringt“
Dirk Weissmann
Yoko Tawada

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